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[thing-group] Received 11. 10. 2011 -- 13:53 from from

Re: Wider den Kreativdiskurs 2

(Gerade frisch und kapitalismusunbefleckt in Deutschland angekommen wurde ich mit dem Diät-Slogan"...ich will so bleiben, wie ich bin..."
bereits in den Achtzigern konfrontiert.)

"Sei du selbst" – ach, wenn das so leicht wäre, wenn die Zeit tatsächlich nicht so begrenzt wäre. Denn nicht genug, dass man sich den Weg
in die Freiheit aufgrund der persönlichen weit zurück liegenden Entwicklungsschwierigkeiten mitunter sehr bitter erkämpfen muss,
kommen neue Begrenzungen hinzu. Man wird von allen Seiten mit Vorschlägen überschüttet:
vielleicht so oder so, wie wäre es damit oder hiermit, was sagen Sie dazu und...
"DAS! Ohja, das wir zu Ihnen garantiert passen! DAS wird Ihnen gefallen"
Umtausch jederzeit möglich.

Das Leiden an/über/aus der Kunst ergibt sich aus dem grummelnden Anspruch nach Freiheit und ist somit gar nicht romantisch.
Heute leidet man als Künstler umso mehr, denn ein Mehr als zuvor raubt uns unsere Individualität, Einzigartigkeit,
immer difiziellere Bereiche unserer Seele - womöglich schöpferischer - werden besetzt durch Fremdes und Vorformuliertes *(1).
Angesichts dessen einem Reptil ähnlich müssen wir uns immer schneller des sich über uns Legenden entledigen - das dünne Häutchen
abwerfen, immer schneller, die Zellen kommen mit der Proliferation nicht mehr nach, eine seelische Neurodermitis bricht aus.
Oder vielleicht auch eine Akne, wie in der Pubertät, wenn wir in dem natürlichen Bestreben uns von unseren Eltern zu unterscheiden,
alles was an sie erinnern könnte mit Wu(ch)t abzulegen versuchen, uns die Haare blau färben, die Hosen in die Kniekehlen abrutschen lassen,
zentimeterlange schwarzlackierte Nägel tragen, überall Löcher reinstechen lassen, um nur ein Paar Regungen aus diesem Reppertuoir zu erwähnen.

(Wobei sogar das Eigene kann mittlerweile verwertet werden... - das ist aber Kunst. Oder? Denn neulich sah ich auf einem Groß-
flächenplakat irgendeines Tabakherstellers einen Aufruf, ein "Du" mit dem Wunsch einen Videoclip zu machen könne sich an die Firma
wenden und die eigene Idee von professionellen Operatern umsetzen lassen. )

*(1) Kleine schnuckelige Apps, die jedem Luftentweichen unserer Eingeweide ein Spiegelbild bieten.
Es wird immer schwieriger sich vor dem verführerischen Echo zu verstecken, womit das emanzipatorisch getriebene Idividuum
in seinem eigenen Kreativbestreben ausgebremst und häufig schach-matt gesetzt wird.

Wie Brentis (unermüdlich) treffend feststellt, die Abhängigkeit von der Verführung wächst und stellt sich als unersetzlich dar.
Man kann dagegen ankämpfen, wie Richard Sennett oder Jean-Luc Goddard, die auf jegliche High-Tech – Annehmlichkeit im Privaten verzichten,
aber dafür muss man - den Eindruck habe ich - eben: entweder Senett oder Goddard sein. Ansonsten wirkt man schnell verstaubt
anachronistisch. Den Cordhosenträgern, die behaupten, sie hätten ein Handy "nur zum telefonieren", unterstellt man sogleich
eine bierdeckelreaktionäre Stammtischzugehörigkeit oder Lehrer. Als Frau ist man da allerdings etwas feiner raus. 
(Ich glaube, das gibt es immer noch.)

Wie die erwähnten Apps, die Navis, selbst gestaltbare Internetseiten (BBC) oder aber auch die Spülmaschinen, die Verkehrszeichen, die Heizkörper,
der Lift, das Fahrrad, all diese Dinge helfen uns wir selbst zu sein, denn sie nehmen uns Arbeit ab und erlauben uns mehr Zeit der Selbstentdeckung
und -gestaltung zu widmen, regeln den gefährlichen Chaos des Lebenigen, wie des Verwesenden. Hilfsarme und Verwöhner.
Spiegeln sie uns vielleicht unsere Trägheit und Bequemlichkeit?

Die Verkehrsführung z.B. wird seit einiger Zeit in Frage gestellt in Form der Idee des Share space in Städten. Stadtzentrum für alle, Fußgänger,
Autos, Strassenbahnen, Kinder, Greise, und das ohne Schilder und Ampeln. Dadurch soll die Aufmerksamkeit erhöht und Verantwortung für
andere Stadtmitbenutzer geschärft werden. Die Wahrnehmung somit gefördert. Im Extremfall - nehmen die Sozio-Urbanisten an - könnte diese Umstellung zum mündigeren und kritischeren Bürger führen, der sich nicht mehr von der Kaufhausmusik einlullen lassen darf, den das grelle 
Ampelrot nicht mehr zum dumpfen Anhalten zwingen muss.

Um (vielleicht) Brentis ein Wenig nach dem Mund zu sprechen, möchte ich abschliessend Fragen, wieviel Freiheitsbestreben (also Selbst-Beherrschung,
Selbstentscheidung und nicht zuletzt Selbstzufriedenheit) uns Steve Jobs (als einer von vielen) imstande ist, uns zu vermitteln.
Liebe Grüße

MG
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