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Fwd: TELEPOLIS: Wissenschaft als Web-Sampling


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Wissenschaft als Web-Sampling
Stefan Weber 15.12.2006

Wie an Universitäten in Windeseile eine Textkultur ohne Hirn entstanden
ist - Teil 3

In der gegenwärtigen (akademischen) Textkultur kommt es offenbar
systematisch zu Texten, die nicht selbst geschrieben wurden und auch
nicht von anderen gelesen werden. Der Text bleibt somit von Produktion
und Rezeption relativ "unberührt".

Der wissenschaftliche Text kann durch ein Totalplagiat, ein
Copy/Paste-Plagiat, ein geringfügiges Umschreiben von Originalstellen
oder aber auch durch einen Zufallsgenerator (1) entstehen. Sogar das
Copy/Paste-Verfahren selbst kann schon an die Software ausgelagert
werden, etwa mit dem Picker (2) von Citavi. Sollte diese Software auch
noch bald themenspezifische Zitate aus dem Internet heraussuchen,
belegen und arrangieren können, werden akademische Arbeiten in der
derzeitigen Form kaum noch als Leistungsnachweise gelten können. Im
schlechtesten Fall wird der so entstandene Text nie gelesen, nicht
einmal vom "Verfasser" selbst. Auch die Rezeption kann maschinell
erledigt werden: etwa durch eine Antiplagiatssoftware.

Warum nur, warum ist der Text so ungeliebt?

Viele kultur- und geisteswissenschaftlichen Institute an Universitäten,
aber auch zahlreiche andere Bildungseinrichtungen produzieren derzeit
eine derartige Textkultur ohne Hirn: Wissenschaftliche Texte bestehen
zunehmend aus minimalen Umschreibungen bestehender Texte, und sind
alleine schon dadurch kaum noch anschlussfähig. Darauf weisen meine
bisherigen Stichprobenkontrollen deutlich hin. Es kam zu einer Invasion
des "Vgl.", wobei wissenschaftliches Arbeiten offenbar sehr oft mit
einem rein editorischen Vorgehen gleichgesetzt wurde. Wissenschaft als
Erfinden kreativer Ideen auf der Basis des Verstandenen habe ich kaum
einmal vorgefunden.

So lieblos die Produktion, so auch die Rezeption: Die Arbeiten werden
immer öfter auch von den Betreuern nicht mehr (sorgfältig) gelesen. Und
eine weitere Legitimation der wissenschaftlichen Abschlussarbeit ist
verloren gegangen: Sie treibt kaum noch selbst Forschung voran. An
vielen Instituten wird ja so gut wie gar nicht mehr geforscht, sondern
es werden nur noch Studierende verwaltet, Lehrpläne adaptiert,
Lehrkräfte berufen oder verhindert, Intrigen geschmiedet, Allianzen
gebildet oder gesprengt - und es werden ganz allgemein notorisch die
schlimmen Verhältnisse beklagt. Wo war da noch die Diplom- oder
Doktorarbeit?

Nicht nur Netz-Plagiate, auch Netz-"Zitate" machen die Wissenschaft
kaputt

Meine erste Stichprobenkontrolle von 13 Diplomarbeiten aus dem
Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg im
Frühjahr 2006 ergab folgendes Bild: Elf Arbeiten waren unsauber, das
heißt schlichtweg wertlos für die Forschung und für mögliche weitere
Zitation. Eine inhaltliche Beurteilung der Arbeiten konnte gar nicht
erst erfolgen, da Quellenlagen und/oder Zitierweisen diffus waren:

In den Diplomarbeiten befanden sich etwa "Zitate" aus Webseiten wie
www.kulleraugen.de (3) oder www.emotionalekompetenz.net (4). Diese
Textsegmente aus dem Internet dienten jedoch nicht etwa als empirisches
Material für Textanalysen, sondern vielmehr der
"Informationsvermittlung" in der Arbeit.

Auf die Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen und
nicht-wissenschaftlichen (etwa: esoterischen oder
allgemein-informativen bis trivialen) Textsorten wurde nicht Rücksicht
genommen.

Einige der angegebenen URLs waren zum Zeitpunkt der Überprüfung bereits
wieder verschwunden, oder die "zitierten" Texte fanden sich unter neuen
Sublinks oder auf anderen Webseiten.

Die Informationen aus dem Netz waren in zahlreichen Fällen selbst von
unklarer Herkunft, die Quellen wurden bereits online verschwiegen.
Offenbar genügte in vielen Fällen die Tatsache des Vorhandenseins im
Netz als Beweis für die vermeintliche wissenschaftliche Korrektheit der
Information.

Eine zweite Stichprobe im Herbst 2006 an der Universität Klagenfurt
brachte sehr ähnliche Erkenntnisse: In neun von zehn Diplomarbeiten -
erneut aus dem Fach Medien- und Kommunikationswissenschaft - fanden
sich teilweise zahlreiche "Zitate" aus dem Internet, mitunter in einer
Länge von bis zu zwei Manuskriptseiten. In einer Diplomarbeit über
nonverbale Kommunikation wurde etwa der Inhalt der URL
de.wikipedia.org/wiki/Mimische_Muskulatur (5) in den Fließtext
"inkorporiert", samt der in der Wikipedia vorgefundenen Abbildung.
Nahezu alle Übernahmen waren keine Plagiate im engeren Sinn. Man mag
diese Fälle als unsauberes, irreführendes oder oft auch einfach Zeit
sparendes "Zitierverhalten" interpretieren. Doch auch das ist für mich
noch gar nicht der entscheidende Punkt.

Es geht vielmehr um eine Frage, die bislang kaum gestellt wurde: Was
ist eigentlich für die Wissenschaft damit gewonnen, wenn immer mehr
akademische Abschlussarbeiten aus einer schier endlosen
Aneinanderreihung von Textfragmenten aus dem Internet bestehen und
gleichzeitig so gut wie kaum noch selbst formuliert wird? Die
Stichwort-Suche im Netz kann ja jeder mit Netzzugang und einfachsten
Grundkenntnissen durchführen, und auch für die Tätigkeit des
Kompilierens und Arrangierens ist keine besondere Vorbildung notwendig.

Die Unvereinbarkeit von Web-Quellen und der Gutenberg-Belegkultur

Ein fataler Denkfehler hat sich hier unbemerkt eingeschlichen (und
Schuld tragen eindeutig die Lehrenden): "Zitate" aus dem Web wurden und
werden behandelt wie Zitate aus gedruckten Quellen. Die Idee der
wortwörtlichen Zitation aus Büchern oder Fachzeitschriften steht und
fällt jedoch mit der Idee, dass diese Quellen zumindest theoretisch
irgendwo auffindbar sind. Das ist die Logik der Belegkultur der
Gutenberg-Galaxis: Eine Quelle wird wortwörtlich zitiert, damit diese
im Ernstfall auch bezogen werden kann - und sei es per Fernleihe aus
einer Bibliothek am anderen Ende der Welt.

Im Internet herrscht eine andere Logik: Hier gibt es keinen
verbindlichen, invarianten, einmal festgeschriebenen Textkorpus.
"Quellen" verschwinden, werden umgetextet, Textpartikel, ja ganze Texte
flottieren frei umher, tauchen mit und ohne Quellenangaben auf
zahllosen anderen Webseiten wieder auf usw. Wie war es möglich, dass
die Kulturwissenschaften einhellig "entschieden" haben, Webquellen
nahezu jedweder Art in die höheren Weihen der wissenschaftlichen
Zitierbarkeit aufzunehmen?

Vom Ende des Textverstehens im herkömmlichen Sinn

Der Höhepunkt der Absurdität ist mit dem "direkten wissenschaftlichen
Zitat" aus der Wikipedia erreicht: Es erfreut sich insbesondere bei
biographischen Abschnitten in akademischen Arbeiten größter
Beliebtheit, zudem gilt die Wikipedia auch ganz allgemein als zitable
Quelle für Fakten und Informationen jedweder Art.

Aber: Wenn's ohnedies schon in der Wikipedia steht, muss es dann
nochmals per Copy/Paste und/oder leicht paraphrasiert in die eigene
wissenschaftliche Arbeit hineinwandern? (Freilich sind prinzipiell auch
leicht umgeschriebene Print-Texte redundant, aber hier gilt immerhin
noch, dass gedruckte Fachliteratur in der Regel schwieriger zugänglich
ist als die Seite de.wikipedia.org (6).)

Der Verrat am Vgl.

Und sogar die ursprüngliche Idee des inhaltlichen Verweises wurde
verraten: Der Eigentext des Autors wurde früher mit einem "vgl."
abgeschlossen, wenn auf die soeben skizzierten Ideen in der
existierenden Literatur oder auf weiterführende Literaturtitel
verwiesen wurde. Heute heißt "vgl. XY" am Ende eines Satzes, Absatzes
oder Abschnitts: Von der Quelle XY habe ich ab- oder ein wenig
umgeschrieben. Die endlose Abfolge von "Vgls" dieser Art ist fast so
schlimm wie die Aneinanderreihung von Plagiatsstellen.

Die klassischen Konzepte der Gutenberg-Belegkultur und des
Textverstehens aus dem Print-Zeitalter können für die Webkultur nicht
gelten: Online-Texte werden nach ganz anderen Regeln erzeugt und auch
anders rezipiert. Da seit ungefähr dem Jahr 2000 bereits tausende oder
gar abertausende wertlose wissenschaftliche Abschlussarbeiten mit teils
zahlreichen Web-Sampling-Stellen produziert wurden, sollten wir zur
Schadensbegrenzung schnellstmöglich neue Spielregeln einführen, wie
etwa:

Direkte Zitate aus dem Internet nie zur Faktenvermittlung, sondern nur
noch als illustrative Beispiele, wenn also das Zitat selbst
thematisiert wird (kritische Distanz!)

Verpflichtender Ausdruck/Screenshot jeder zitierten Website im Anhang

Keine Zitate von der Wikipedia, außer zur kritischen Kommentierung

Idealerweise sollte in wissenschaftlichen Arbeiten von Webseiten nur
dann zitiert werden, wenn es tatsächlich wissenschaftliche Quellen sind
(etwa Online-Auftritte von Journals etc.)

Doch wir haben das Zitiermodell aus dem Prä-Internet-Zeitalter
unreflektiert der Web-Ära überstülpt. Dies könnte rückblickend ein
schwerer Fehler gewesen sein.

Vom Schreiben von Sätzen zum Arrangieren von Web-Partikeln

Meine Beispiele zeigen, dass es in der Textkultur ohne Hirn kaum noch
notwendig ist, Texte zu verstehen. Es genügt, sie ein wenig zu
bearbeiten. Das Ergebnis ist ein dramatischer Qualitätsverlust bei den
wissenschaftlichen Arbeiten, eine Unüberprüfbarkeit der Quellen und
eine bis dato nicht für möglich gehaltene "kognitive Entlastung" der
Autoren: Diese werden zu bloßen Dirigenten von Web-Partikeln. Sie
können diese zu einem "wissenschaftlichen" Opus arrangieren, ohne sich
mit den Inhalten vertieft auseinandergesetzt zu haben. Selbst das
fachspezifischste Wissen wird im Web zum samplingfähigen
Allgemeinwissen. Die pragmatische Dimension des Textes geht dabei
verloren.

Wir sollten dringend diskutieren, was dieser von den Universitäten
geduldete und oft sogar forcierte neue Umgang mit Texten für den
Bereich des Anwendungswissens bedeuten wird. Mit anderen Worten:
Welches Wissen ist eigentlich in den Hirnen der "Generation
Google-Copy-Paste", nachdem diese die Universität verlassen hat?

Von Stefan Weber ist das Buch Das Google-Copy-Paste-Syndrom. Wie
Netzplagiate Ausbildung und Wissen gefährden (7) in der Reihe
"TELEPOLIS" erschienen. Der Autor ist habilitierter
Medienwissenschaftler aus Salzburg.

Dank an Michael Schmolke für Diskussionen, die mit zu diesem Artikel
geführt haben.

LINKS



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(2) http://www.myspace.com/hitler_hearts_puppies
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