Received 19. 08. 2008 -- 23:04 from
fromBetrifft: form versus inhalt
Hallo Stefan,
für mich sollte den Künstler auch die Poetik nicht interessieren, weil
er dann (für mich) schon zu weit vor denkt. Oder ich habe Dich
missverstanden. Poetik „geschieht", und alles andere geschieht auch...
sind das nicht erst zweite und dritte Schritte...? Ich möchte das beim
Kreieren, Erschaffen, wie Du es auch immer nennen magst, nicht denken
müssen... oder... wie gesagt: ich habe Dich vielleicht missverstanden
in Deinem ersten Absatz.
Zur Redundanz: In der Kunst (in jedem Beispiel, auch in den nicht in
den Kanon aufgenommenen Arbeiten) hast Du aber doch diese
überraschenden Nuancen, und lass es nur Nuancen sein!
Du hast ja auch nicht nur Italienisch, Englisch, Deutsch, usw.,
sondern immer auch den, der es sagt, den, dem er es sagt, die
Hintergründe der Personen, die Intentionen der Personen... die Sprache
ist eben nur die FORM, mit deren Hilfe kommuniziert wird. Alles andere
ist immer überraschend und: „neu genug". Bei Deinem Beispiel mit der
Pizzeria komme ich nicht ganz mit bzw. das zeigt doch gerade, wie
vielschichtig eine bestimmte Form gedeutet werden kann: der eine kommt
damit ziemlich affektiert rüber und ein anderer vielleicht charmant –
und überbewerten sollte man DIESE Nutzung der „Form Italienisch" auch
nicht ;-) . Aber dass es diese Form gibt, ist eine Bereicherung, egal,
ob sie aus Deiner Warte auch schon mal ärgerlich oder nervig
rübergekommen ist.
Nehmen wir einen Kritiker oder auch „nur" einen Rezipienten, dem etwas
nicht neu genug ist und es daher in Bausch und Bogen abqualifiziert –
einem anderen Betrachter ist es „neu genug". Vielleicht wird durch das
Betrachten DIESER speziellen Sache sogar etwas in ihm angestoßen, das
durch das Betrachten dieser anderen speziellen Sache (die, die dem
Kritiker bereits bekannt war) nicht angestoßen worden wäre – wer will
das sagen. Wenn für mich der Dialoggedanke im Vordergrund steht, dann
KANN das reichen... und wenn es einmal reichen kann, muss ich
theoretisch alles gelten lassen, für das das auch gelten kann, Fazit:
ich lasse alles zu, kann, DARF gar nichts mehr bewerten im Sinne von
„gut" oder „schlecht", „anachronistisch" oder „up to date".
Und dass es in der Praxis zufällig vonstatten gehen KANN, ist für mich
ein gutes Argument für meine Kunst-Sicht...
ich bräuchte noch Hilfe bei dem Beispiel von Michail Bachtin. Was
zeigte das Deiner Meinung nach?
--- In thing-frankfurt [at] yahoogroups [dot] de hat Stefan Beck
geschrieben:
>
> Hallo Sabine,
>
> ich denke, wir sollten hier zwei Dinge nicht vermischen.
>
> Einerseits, die Vorstellung wie ästhetische Kommunikation idealerweise
> vonstatten gehen sollte. Wie es sich Produzent und Konsument jeweils
> denken. Dies nennt Eco die "Poetik".
>
> Dann aber, wie sie in der Praxis zufällig vonstatten geht.
>
> Ein besonders drastisches Beispiel ist das von Michail Bachtin. Der
> Legende nach war er während der deutschen Belagerung von Leningrad
> gezwungen sein Manuskript über deutsche Literatur Seite für Seite in
> Zigarettenpapier zu zerreissen und damit zu zerstören.
>
> Proust las gerne Fahrpläne, obwohl ihm Reisen verhasst war. Ihn
> inspierierte der Klang der Stationen.
>
> Dagegen ist nichts zu machen, den Künstler sollte daher nur die Poetik
> interessieren.
>
>
>
> Dein Beispiel über die mögliche Klischeehaftigkeit des Italienischen
ist
> nicht so weit hergeholt, wie es klingen mag.
>
> Es gibt doch genug Leute, die in der dümmsten Pizzaria ständig
"grazie",
> "prego" oder "espressi" sagen müssen.
>
> Alle Formen und Inhalte nützen sich ständig ab. Das liegt daran, dass
> wir sie kommunizieren.
>
> Kommunizieren bedeutet einen Überraschungseffekt zu erzielen, und
sei er
> auch noch so klein.
>
> Wenn der nicht auftritt, dann ist die Botschaft - wie die Fachleute
> sagen - redundant.
>
> > Hallo Stefan,
> >
> > zu a) „In der Praxis kann das anders aussehen" – ja, das erlebe ich
> > öfter SO. Die Produzenten sehen oft mehr Inhalt, die Konsumenten eher
> > die Form bei ein und derselben Arbeit. (Oder besser: die Konsumenten
> > füllen die sichtbare Form mit IHREM Inhalt.) Das finde ich aber recht
> > logisch, dass es so ist. Liegt quasi in der Natur der Sache, weil
> > Kunst sehr persönlich sowohl geschaffen als auch gesehen wird.
> >
> > zu b) sicher.
> >
> > Aber weiter: die „Form Buch" ist Dir erst mal doch nicht dadurch
> > versperrt, dass Du keinen Verlag hast... Du könntest trotzdem eine
> > „Form Buch" wählen. Nur denkst Du vermutlich weiter und sagst ‚aber
> > was nützt es, wenn es nicht verlegt wird' – aber das ist erst der
> > nächste Schritt. Natürlich weiß ich, wie's gemeint ist, aber es ist
> > eine Überlegung, die mit der Form an sich erst mal nichts zu tun
hat...
> >
> > zu c) „medium is the message" – die Rezipienten, die der Form
einen hohen
> > Stellenwert geben, sind das eine. Da würde mir eine einfache
> > schlüssige Begründung helfen. Wenn z. B. ein Künstler sagt ‚Ich habe
> > mir absolut nichts dabei gedacht!' und der Rezipient erlebt einen
> > ästhetischen Genuss wie noch nie zuvor in seinem Leben und bezahlt
> > dafür wie für noch nichts zuvor in seinem Leben, dann ist das für mich
> > absolut o.k. .
> >
> > Künstler, die der Form einen hohen Stellenwert geben, aber das nicht
> > künstlerisch (oder so schnöde und entwaffnend wie oben geschrieben)
> > begründen (könn[t]en), sind mir ein bisschen suspekt. Zwar finde ich
> > es auch nicht klasse, wenn jemand so toll quatschen kann, dass er mir
> > etwas schlüssig verkauft, um sich hinterher ins Fäustchen zu lachen,
> > wie blöd ich eigentlich gewesen sei... aber auszuschließen ist sowas
> > ja nie. Ich hoffe da eigentlich immer auf die Chemie zwischen Werk,
> > Erschaffer und Abnehmer, dass alles schon so o.k. ist, wie es ist.
> >
> > Das mit Inhalt und Form war eingangs von mir so gemeint: Kunst ist
> > ganz allgemein gesprochen für mich Sprache, Dialogaufnahme mit eigenen
> > Mitteln. Wenn es nun in der Kunst immer nur um „höher", „weiter",
> > „spektakulärer" und „anders" geht, man alte Formen quasi nicht mehr
> > „benutzen" darf, weil sie nicht mehr up to date sind, dann ist das für
> > mich ein bisschen so, als wenn jemand sagt ‚och, weißt du, Italienisch
> > ist mittlerweile out; es ist klischeehaft, es zu benutzen' – weißt Du,
> > wie ich es meine? Das ist für mich DER KONFLIKT schlechthin.
> >
> > zu d) „Anderseits aber die Balance zur Lesbarkeit halten." Ja,
finde ich
> > natürlich wichtig, aber „ernsthafte" kreative Arbeit „mit Inhalt"
> > braucht sich darum, glaube ich, eigentlich nicht so viele Gedanken
> > machen, denn ich wette, es wird in den allermeisten Fällen gegeben
> > sein... trotzdem verweise ich noch mal auf a) ;-) .
> >
> > „Finnegans Wake" hat, ohne es bisher zu kennen, mit Sicherheit für
> > mich jede Berechtigung, auf der Welt zu sein wie jedes andere,
> > eingängigere Werk. Jedes Ding hat in der Kunst sein Gegenüber, da bin
> > ich sicher, nur: ob die beiden sich treffen, ist ungewiss... – aber
> > das ist auch erst der nächste Punkt, den der Erschaffer beim
> > Erschaffen meines Erachtens nicht mitzudenken braucht... zumindest
> > nicht auf dem alternativen Kunstmarkt ;-) .
> >
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