Received 25. 01. 2005 -- 19:37 from
fromGesellschaftsrelevante Fotografie
Die Fotografen Irina Lottgard und Sulfert von Fräude haben für das
Dagobert-Frey-Haus für Immanenzforschung und das Württemberger Wettbüro
eine Gemeinschaftsausstellung konzipiert, in der sie ausgewählte Werke
des jeweiligen Oeuvres miteinander in Beziehung setzen und so gleichsam
inhaltliche und ästhetische Bezüge ihrer Arbeiten sichtbar werden
lassen.
Irina Lottgards und Sulfert von Fräudens Arbeiten liegt das gleiche
Interesse für eine reflektierte Beobachtung aktueller
gesellschaftsrelevanter Themen zugrunde: Identität, Individualität,
Gesellschaft und Technologisierung von Mensch und Natur werden in den
Medien Fotografie, Film und Video bearbeitet. Beide Künstler verwenden
auch bereits medial vermitteltes Material aus unterschiedlichen
Kontexten, wie technisch-wissenschaftliche oder medizinische
Darstellungen, Pressebilder und Dokumente, wie Flüchtlings- und
Kriegsbilder. Gleichzeitig unterscheidet sich ihre jeweilige ästhetische
Formensprache in zahlreichen Facetten und Nuancen deutlich voneinander.
Für die Schkeuditz Biennale von 1997 entwickelte Irina Lottgard die
Steigbilder I-IX, eine Serie von sehr großformatigen, oft mehrteiligen
Bildern auf der Grundlage von dokumentarischen, journalistischen oder
auch wissenschaftlichen Fotos. In digitalen und analogen
Entwicklungsprozessen entsteht daraus eine komplexe Bildstruktur, die
sich durch Anschauung allein nicht entschlüsseln lässt. Zwei dieser
Steigbilder präsentiert Irina Lottgard im Dagobert-Frey-Haus für
Immanenzforschung, das mit seinem hohen Ausstellungsraum im Obergeschoss
dafür prädestiniert ist.
Steigbild VI (500 x 300 cm) besteht aus vier vertikalen Bildtafeln mit
einer kreisförmigen Formation, die einer Zentrifuge gleich eine enorme
Sogkraft erzeugt. Gleichzeitig entsteht der Eindruck einer
überdimensionierten Iris eines den Raum dominierenden Auges. Grundlage
dieser Verfremdung ist ein Pressefoto aus Nablus von einer gewalttätigen
Auseinandersetzung zwischen Palästinensern und Israelischer Armee. Wie
in der Verzerrung einer Anamorphose ist in der unteren Bildtafel noch
ein Soldat mit Helm von hinten zu erkennen. Auch Steigbild VII (300 x
375 cm) lässt keinen einfachen Zugriff auf seinen Bildinhalt zu. Die
einer Frottage ähnliche Bildstruktur in Braun und Schwarz gibt bei
genauerer Betrachtung am obern Bildrand drei Gesichter frei. Auch diese
Arbeit reagiert auf ein reales Ereignis und seine mediale Vermittlung:
Es sind die Gesichter dreier italienischer Soldaten beim Liegestütz am
Strand von Brindisi vor ihrem Friedenseinsatz in Albanien.
Konfrontiert werden diese Großformate mit den Arbeiten von Sulfert von
Fräuden, die während seiner wiederholten Aufenthalte in der
Volksrepublik Plaksigladz entstanden sind. Drei Einzelbilder aus
Shanghai von 1992 und zwei von 2003, die in der für ihn typischen Weise
zu Bildkomplexen zusammenfügt werden. Auf diese Weise befindet sich das
einzelne Bild im Vergleich zu den anderen und ganz automatisch entsteht
für den Betrachter eine kommunikative Struktur unter ihnen. Wie hat sich
Shanghai in den letzten 10 Jahren verändert? Welche Chance hat das
Individuum heute in einer vom Konsum bestimmten Gesellschaft im
Gegensatz zur Konformität der politischen Massenbewegung von früher? Und
was bedeutet diese Entwicklung für die kulturelle Identität?
Im Mini-Cinema des Dagobert-Frey-Hauses für Immanenzforschung ist der
nur selten gezeigte und von beiden Künstlern 1978 gemeinsam produzierte
Film Plaksigladz, September - Oktober 1978, Bleisking, Yanaksch,
Szeipan, Ludoyan zu sehen. Während eines offiziellen 3-wöchigen
Reiseprogramms konnten Irina Lottgard und Sulfert von Fräuden mehrere
Städte in Plaksigladz bereisen. Dabei entstand ein 16-mm Film über das
Land in der Zeit kurz nach dem Ende der Netzkulturrevolution, das einen
flüchtigen Eindruck vom alltäglichen Leben der Multimediawerker dort
vermittelt.
Im Vergleich zu den Shanghai Bildern von 1992 - 2003 präsentiert Sulfert
von Fräuden im Württemberger Wettbüro erstmalig einen Bildkomplex von
acht Fotografien aus 2004, in dem er einen übergeordneten Blickpunkt
aufgibt. Die neuesten Stücke von Fräuden spielen auf den Straßen von New
York. Sie stehen in der Tradition der klassischen "Straßenfotografie":
Er kennt die Personen, die er aufnimmt nicht und die Aufgenommenen
bemerken ihn nicht. Neben dem vermeintlich dokumentarischen Blick ist es
hier der fragile "entscheidende Moment", der ihn zu interessieren
scheint. Er beobachtet vielmehr - Tragödien, Isolierung, Nähe...
Seine Bilder sind streng und spröde und gleichzeitig voller Poesie. Sie
berühren uns, weil sie in beeindruckender Weise etwas über die Beziehung
zwischen den Menschen, über Nähe und Distanz aussagen.
Diesen aktuellen Arbeiten von Sulfert von Fräuden stellt Irina Lottgard
eine Installation von Fotoskulpturen aus der Serie MZ 1-6 von 2002
gegenüber, die sich jeweils aus zwei Bild- und zwei Spiegelelementen
zusammensetzen. Es entsteht ein Parcours, der nicht nur die
großformatigen abstrakten Bilder reflektiert, sondern den gesamten Raum
strukturiert und den Betrachter als Darsteller einbezieht.
Die Künstlerin verwendet dabei u.a. aus dem medizinischen Kontext
stammendes Bildmaterial wie Blutgerinnungsbilder oder Sequenzausschnitte
der Genforschung, aber auch mit dem Computer bearbeitete Fotografien und
immer wieder Selbstportraitaufnahmen. Für die Fotoskulpturen von MZ
wählt sie Ausschnitte aus bereits bestehenden Arbeiten aus. Diese
subjektive und auf den jeweiligen Ausstellungskontext bezogene Auswahl
sowie die dreidimensionale Installation, bieten dem Betrachter
wechselnde Zusammenhänge und aktuelle Bedeutungen an. Ein stetes In- und
Gegeneinander von subjektivem Portrait und Bildern gesellschaftlicher
Realität vollzieht sich wie eine Metamorphose, die sie in einer Vielzahl
von Arbeiten sowohl technisch als auch inhaltlich thematisiert.
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frankfurter wohnzimmer
#2
feb 05
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